Ein Fantasy RPG-Forum: Sei (fast) alles was du schon immer sein wolltest
 
StartseiteSuchenNeueste BilderAnmeldenLogin

 

 [Unbeteiligte] Lipwig (D-Rang)

Nach unten 
AutorNachricht
Lipwig

Lipwig


Anzahl der Beiträge : 44
Gold : 0
Anmeldedatum : 13.10.18

[Unbeteiligte] Lipwig (D-Rang) Empty
BeitragThema: [Unbeteiligte] Lipwig (D-Rang)   [Unbeteiligte] Lipwig (D-Rang) Icon_minitimeMi Okt 17, 2018 11:15 pm



[Unbeteiligte] Lipwig (D-Rang) Lipwig11

Lipwig

Die Welt ist herrlich frei von ehrlichen Leuten
und wundervoll voll von Leuten, die glauben, zwischen einem
ehrlichen Mann und einem Gauner unterscheiden zu können.

-Terry Pratchett, Ab die Post (Übersetzung: Andreas Brandhorst)



Basis


Vollständiger Name des Charakters: Lipwig
Weitere Namen: Albert Spangler, Herr Robinson, Edwin Striep, Mundo Schmitt, u. a.
Titel: -

Geschlecht:  männlich
Alter: 126 Jahre
Geburtstag: 01.01.

Geburtsort: Perm
Wohnort: reisend
Beruf: Gauner, Fälscher, Trickbetrüger

Rasse:
Engel:
Volk:
Erzengel:
Fraktion: Unbeteiligte



Charakter




Künstler: leona-florianova
Image missing



Aussehen:

 „Er war ungefähr zwanzig oder vielleicht auch dreißig. Er war ungefähr eins siebzig groß. Oder, nein, eher eins achtzig. Seine Augen waren grau. Oder grün. Oder blau. Vielleicht sogar braun? Na, egal. Seine Haare waren ganz sicher mittelbraun… Vielleicht waren sie aber auch blond? Auf jeden Fall hatte er einen Schnurbart! Und Haare in den Ohren! Definitiv Haare in den Ohren.“
 Diese Beschreibung gab ein Mann von 45 Jahren einem skeptisch dreinblickenden Wächter in Perm. Dieser hatte vor wenigen Tagen eine weitere Beschreibung derselben Person erhalten: „Der Mensch war so um die eins fünfundsiebzig groß. Er war jung. Vielleicht wirkte er aber auch nur so, weil er ein glatt rasiertes Gesicht hatte. Und seine Haare habe ich nicht gesehen, weil er eine große, rote Mütze trug.“
 Ein anderer Wächter erhielt folgende Aussage: „Er hatte Kotletten und eine Brille. Und er kratzte sich oft an der Nase. – Die Nase? Die war irgendwie… normal.“
 „Einen Vollbart hatte er.“
 „Ein blindes Auge.“
 „Einen Zylinder.“
 „Einen gut geschnittenen Anzug.“
 „Ein zerrissenes Hemd.“
 „Eine große Gürtelschnalle.“
 „Keinen Gürtel, aber eine Pluderhose.“
 Die Wahrheit ist, dass diese Zeugen alle Recht und Unrecht haben. Sie erinnern sich an die richtigen Details. An die, die Lipwig genau zu dem Zweck angelegt hat, damit man sich an sie erinnert. Sein eigentliches Gesicht unter diesen Verkleidungen ist ungefähr… Durchschnitt. Und seinen Kleidungsstil wechselt er wie andere Leute Unterhosen.
 Seine Merkmallosigkeit ermöglicht es Lipwig, in jede beliebige Rolle zu schlüpfen. Zu diesem Zweck trägt er zu jeder Zeit einige entfernbare Details in den Innentaschen seiner Kleidung. Und Innentaschen hat er viele. Sehr viele. In sämtlichen Kleidungsstücken und gut verborgen.
 Das einzige, was stets gleich bleibt, ist, dass er einen ehrlichen, freundlichen und vertrauenswürdigen Eindruck macht. Auch das ist etwas, das in Erinnerung bleibt: „Er wirkte doch wie ein so ehrlicher junger Mann.“
Nur an den Lipwig hinter seiner Maske, den flügellosen Engel, erinnert sich niemand.

Besondere Merkmale: keine / viele


Persönlichkeit:  

 Lipwig ist eigentlich sehr einfach gestrickt. Er macht alles, was ihm Spaß macht, und kümmert sich kaum um die anderen Dinge. Mit einem Verstand wie dem seinen hätte er sich allem Möglichen widmen können. Er wäre ein guter Anwalt geworden, ein guter Arzt. Er hätte ein herausragender Schauspieler oder Musiker werden können. Seine flinken Finger hätten ihm dabei sicher nicht im Weg gestanden. Er hätte mit seinem immensen Einfühlungsvermögen auch als Seelsorger Erfolg haben können. Sämtliche Türen standen ihm offen.

 Was hat er also mit seinem jungen Engelleben angefangen? Er hat dem Schutzengeldasein den Rücken gekehrt und wurde ein gemeiner Gauner. Und ein ziemlich guter noch dazu. Ob er nun Glas als Diamanten verkauft, Dokumente fälscht oder sich dem Trickbetrug widmet, Lipwig nutzt unzählige Methoden, anderen ihr Gold aus der Tasche zu ziehen. Seine detaillierten Pläne lassen zwar stets Raum für Improvisationen, sind deswegen aber nicht weniger effektiv. Außerdem wurden sie mit der Zeit immer größer und geben sich nur noch selten damit zufrieden, einzelne Leute zu betrügen. Das sind für ihn inzwischen nur noch Fingerübungen. Denn je höher die Risiken auf dem Weg zu seiner Beute sind, desto glücklicher ist Lipwig. Die Beute selbst ist ihm dabei nicht einmal wichtig. Hält er sie schließlich in den Händen, bringt er sie nur in ein geeignetes Versteck und sieht sich schon wieder nach dem nächsten Nervenkitzel um. Am glücklichsten ist Lipwig daher, wenn ein Plan fehlschlägt und er sich ganz auf seine Menschenkenntnis und Improvisationskunst verlassen muss, um den Armen des Gesetzes zu entgehen. Menschenkenntnis ist für ihn der Schlüssel zu allem. Wozu ein Schloss knacken, wenn man den Besitzer des Schlüssels dazu überreden kann, es für einen zu tun? (Obwohl er auch im Schlossknacken nicht unbedingt ungeübt ist.) So ist es kein Wunder, dass Lipwigs Menschenkenntnis in ganz Erradia ihresgleichen sucht.

 Bei all diesen moralisch zweifelhaften Handlungen hat Lipwig jedoch einen festen Grundsatz: Keine Gewalt! Er verabscheut Gewalt. Wenn sein Plan auch nur zu einem Handgemenge führt, ist dies für ihn gleichbedeutend mit einer Niederlage. Und Niederlagen kann er nicht leiden. Lipwig weigert sich kategorisch, aufzugeben. Er sucht stets nach einem möglichen Ausweg, um wieder Oberwasser zu gewinnen, egal wie aussichtslos eine Situation erscheinen mag. Genau genommen genießt er es erst so richtig, wenn sein Sieg unmöglich erscheint. In solchen Situationen kommt ihm unter anderem seine Anpassungsfähigkeit zu Hilfe. Da Lipwig sich nirgends wirklich Zuhause fühlt, ist für ihn auch nichts wirklich fremd. Die Fremde betrachtet er als neue unbekannte Herausforderung, als eine Möglichkeit, seine Auffassungsgabe auf die Probe zu stellen. Je schwieriger, desto besser.
   
 Seine Achillesferse ist Langeweile. Er kann nicht lange an einem einzigen Ort bleiben, ohne diesem überdrüssig zu werden. Sein Tatandrang treibt ihn ständig zu neuen und riskanteren Unternehmungen. Ebenso findet er keine Freude darin, Freundschaften zu schließen. Andere Personen sind für ihn ein offenes Buch und über lang oder wohl eher kurz, würde er ohnehin das Interesse an einem potentiellen Freund verlieren. Der Fakt, dass er anderen nie als Lipwig gegenübertritt, sondern als Herr Robinson oder Albert Spangler, fördert Freundschaften auch nicht gerade. Seine Alias sind ihm so sehr zur zweiten, bzw. zur dritten oder vierten Natur geworden, dass er sich ohne wenigstens einen falschen Schnurbart nackt fühlt.
 So versteckt er den Menschen mit dem Namen Lipwig auch hält, so ist dies nichts im Vergleich zu der Tiefe, in der er seine Herkunft als Engel vergraben hat. Menschen mögen für ihn ein offenes Buch sein. Engel sind ihm nicht einmal einen Klappentext wert. Er hat bisher noch keinen Engel getroffen, der nicht absolut eindimensional und öde gewesen wäre. Allein die Gegenwart eines anderen Engels gibt ihm das Gefühl, von einer von diesem ausgehenden grauen Blase der Geistlosigkeit eingesogen zu werden.
 War ihm früher die Langeweile nur ein Übel, das es zu umgehen galt, so hat er während seiner Gefangenschaft eine wahrhafte Phobie vor Stillstand entwickelt. Länger als eine Woche an einem Ort zu bleiben, ruft ein nagendes Unwohlsein in seiner Magengrube hervor, das sich mit der Zeit in eine ausgewachsene Paranoia entwickeln würde, wenn Lipwig nicht ohnehin ständig in Bewegung wäre.


Vorlieben:
 Nervenkitzel
 Im Moment leben
 Pläne schmieden
 Perfekt unvollkommene Fälschungen anfertigen
 Fingerfertigkeit üben
 Unehrliche Personen
 Ehrliche Personen
 Hoffnung

Abneigungen:
 Langeweile
 Stillstand
 Menschenleere Orte
 Engel
 Fantasielosigkeit



Ziele: Sich selbst übertreffen
Ängste: Stillstand
Sonstiges: -



Herkunft


Familie:
 Mutter: Maion, 3834 Jahre, Schutzengel, lebendig
 Vater:  Haziel, 3765 Jahre, Schutzengel, lebendig
 Onkel: Jehiel, 4029 Jahre, Hundezüchter, verstorben

Wichtige Personen: -

Team | Partner: -

Timeline:
 - 0 Jahre: Ins Leben gerufen worden
 - 23 Jahre: Schutzengel für Garn geworden
 - 59 Jahre: Garn stirbt
 - 59 Jahre: Schutzengel eines Dorfes in Perm geworden
 - 114 Jahre: Schutzengelberuf an den Nagel gehängt
 - 115 Jahre: „Lehre“ bei Kribbin
 - 115 Jahre: Den Beruf des Gauners ergriffen
 - 116 Jahre: Ankunft in Al’Katz
 - 116 Jahre: Albert Spangler wird geboren
 - 117 Jahre: Ankunft in Er’gast
 - 117 Jahre: Edwin Striep und Mundo Schmitt werden geboren
 - 117 Jahre: Verlassen von Er‘gast
 - 118 Jahre: Herr Robinson, Jeff der Viehtreiber, Herr Hausfried Stallschlosser und Ethel Schlange werden geboren
 - 119 Jahre: Herr Hausfried Stallschlosser stellt seinen Dienst ein
 - 120 Jahre: Der große Bankraub, den niemand bemerkte
 - 121 Jahre: Fred der arme Musiker wird geboren und stellt seinen Dienst ein
 - 122 Jahre: Der Doktor wird geboren
 - 123 Jahre: Der große Raub geht schief
 - 123 Jahre – 126 Jahre: Gefangenschaft in Al'Katz
 - 126 Jahre: Hinrichtung, RPG-Start


Soll ich dir von Engeln erzählen?:

 Als vor 126 Jahren ein junger Engel das Licht der Welt erblickte, war er der ganze Stolz seiner Eltern. Die beiden Schutzengel kümmerten sich rührend um ihren Sohn, den sie Lipwig nannten. Der kleine Lipwig war ein aufgewecktes Kind. Er zeigte an allem Interesse. Doch verlor er dieses auch schnell wieder, wenn er eine Sache durchschaut hatte. Seine Mutter, Maion, strich ihm in besonders unruhigen Momenten sanft über den Kopf und sprach: „Du sehnst dich nach deiner Aufgabe. Ein jeder Engel tut dies. Doch du bist noch ein wenig zu jung. Hab aber keine Angst. Du wirst deine Bestimmung finden.“
 Lipwig fand die Aussicht, sein Leben lang dieselbe Aufgabe erfüllen zu müssen, nicht gerade berauschend. Er hatte seine Eltern viel zu häufig bei deren Arbeit beobachtet, als dass er sich darüber irgendwelchen Illusionen hingegeben hätte. Das Schutzengeldasein war nichts für ihn. Nur traute er sich nicht, das auch seinen Eltern einzugestehen, die doch so viele Hoffnungen in ihn setzten.

 Viele Jahre später saß Lipwig auf der Spitze einer Tanne und beobachtete gelangweilt den Menschen, der unter ihm durch den sturmgepeitschten Wald hechtete. Lässig ließ sich der Engel von der Spitze des Baumes fallen, breitete die Flügel aus und glitt einige Meter voraus. Drei. Er schwang sich auf einen niedrigen Ast. Zwei. Er faltete seine Flügel. Eins. Mit einer lässigen Handbewegung ließ Lipwig eine Lichtkugel direkt vor dem dahineilenden Menschen erscheinen und sprang hinein. Null. Der Mensch blieb wie angewurzelt stehen, während im selben Augenblick ein gewaltiger Ast hinter dem Schutzengel auf den Boden krachte. Lipwig seufzte vernehmlich und sprach: „Fürchte dich nicht, und so weiter. Eile ohne Umwege nach Hause und dir wird nichts geschehen. Und weiche unter keinen Umständen bla, bla. Geh einfach nach Hause, ok?“
 Mit einem unnötigen Plopp ließ er den verdutzten Menschen im Dunkel stehen und schwang sich in die Luft. Selbst der Sturm stellte keine Herausforderung mehr dar. Mit geübten Flügelschlägen ritt er auf Böen, stürzte durch Luftlöcher und kreuzte gegen den Wind. Wann war Fliegen so langweilig geworden?
 Der Engel wurde jäh aus seinen trüben Gedanken gerissen, als sich sein Schutzsinn meldete. Frustriert schrie er den Wind an: „WAS war an ‚Geh nach Hause‘ nicht verständlich?“ Er machte Kehrt. Lipwig war aus der Sicht eines Menschen kaum mehr als ein schwacher Lichtstreifen am schwarzen Himmel. In letzter Sekunde schnappte er seinen Schützling vom Erdboden, bevor der Blitz einschlug. Streng genommen hätte er nicht so direkt eingreifen dürfen, doch wer sollte ihn dafür tadeln? Er hatte ein Leben gerettet und das war schließlich der einzige Sinn seines öden Daseins. Während er über die bebenden Wipfel flog, um den Menschen nun höchstpersönlich nach Hause zu bringen, spürte er dessen wilden Herzschlag in seinem gesamten Körper. Ach ja. Er hatte was vergessen.
 „Hab ich schon erwähnt, dass du dich nicht fürchten sollst?“, fragte er den Hinterkopf an seiner Brust. Er bekam ein ersticktes Gegurgel zur Antwort. Lipwig setzte zur Landung an. Vielleicht war es besser, den Menschen doch auf eigenen Füßen nach Hause gehen zu lassen. Nachdem der Engel seine Last auf dem Boden abgestellt hatte, zögerte er. Sein Schützling wirkte nicht gerade sicher auf den Beinen.
 „Engel“, murmelte dieser gerade.
 „Ja?“, fragte Lipwig in der Hoffnung, ein Gespräch würde sein Gegenüber beruhigen.
 „Engel“, sagte dieser noch einmal und fiel vornüber.
 „Garn?“, stieß sein Schutzengel hervor, als er ihn auffing. Doch er hatte das Band zwischen ihnen schon reißen fühlen, bevor der Mensch seinen Fall begonnen hatte. Mit schwindender Hoffnung tastete Lipwig nach dem nicht vorhandenen Puls des Toten. Der Mensch war seit dessen Geburt vor 36 Jahren Lipwigs alleinige Aufgabe gewesen, sein erster Schützling. Und obwohl der Engel stets seine Pflicht erfüllt hatte, hatte er diesen Moment herbeigesehnt, den Moment der Freiheit. Doch nun, da es so weit war, konnte er sich nicht so recht darüber freuen. Er hatte diesen Menschen und seine Familie besser gekannt, als irgendwen sonst. Und zugegebener Maßen war Garn zu Beginn eine erfrischende und gar komplexe Abwechslung zu seiner eigenen langweiligen Familie gewesen. Sanft legte er dessen Leichnam vor sich ab, trat zurück und flog seinem elterlichen Zuhause entgegen. Auch unter anderen Umständen wären diese Hallen kein willkommenes Ziel.

 „Lipwig!“
 Der Ruf seines Vaters schallte durch die endlosen Lichthallen. Lipwig löste sich aus seiner Ecke, in der er die letzten zehn Minuten stupide die blanke Wand angestarrt hatte. Gemächlich schlurfte er durch identisch weiße Gänge und durchquerte farblose, weitläufige Räume, bis er sich schließlich im Arbeitszimmer seines Vaters einfand, das ebenso eintönig war wie der Rest der Lichthallen.
 „Was ist?“, fragte der junge Engel gedehnt. Er ahnte schon, was jetzt kommen würde. Seine Eltern hatten ihn nach dem Tod seines Schützlings mit Samthandschuhen angefasst. Doch was seine Eltern für Trauer hielten, war schlicht und einfach endlose Langeweile. Es gab in diesem nichtssagenden, eintönigen Anwesen aus Licht einfach nichts zu tun. Diese Schonfrist war allerdings schnell ständigen Aufforderungen zum Lichtbad oder Magieübungen gewichen. Aus denen hatte er sich schon als kleines Kind nichts gemacht. Und jetzt, da er die Abwechslung der Außenwelt kannte, reizten sie ihn noch viel weniger. Bestimmt hatten sich seine Eltern gerade eine neue Foltermethode ausgedacht.
 „Maion und ich haben nachgedacht“, setzte sein Vater nun an. In Lipwigs Erfahrung leiteten diese Worte nie etwas Gutes ein.
 „Wir beide wissen, wie schwer es ist, seinen Schützling zu verlieren. Und uns scheint, dass du noch nicht wieder bereit bist, dich an einen anderen Menschen zu binden“, fuhr sein Vater fort, „Doch ohne eine Aufgabe wird es dir niemals besser gehen.“
 „Ihr könntet mich in die Welt da draußen lassen“, warf Lipwig ohne große Hoffnung ein. Seine Eltern hielten diese trostlosen Hallen für den schönsten Ort der Welt.
 „Das werden wir tun.“
 „Was?“
 Das war nicht die Antwort, die er erwartet hatte.
 „Du wirst der Schutzpatron eines kleinen Dorfes werden. Genauer gesagt, der Engel eines kleinen natürlichen Schreins in dessen Nähe. Dies wird eine reinigende und lehrreiche Erfahrung für dich sein.“
 Das hingegen war wieder genau das, was er erwartet hatte. Auf Ewigkeit an einen einzigen kleinen Ort gebunden sein? Schlimmeres konnte Lipwig sich kaum vorstellen.
 „Nee, bitte nicht“, flehte er, „Da nehme ich lieber einen neuen Schützling.“
 Vielleicht hätte er ja sogar Glück und das Licht teilte ihm einen der Nomaden im Zentrum Perms zu. Dann käme er wenigstens herum.
 „Wie gesagt, halten wir das nicht für eine gute Idee. Maion bereitet gerade alles vor.“
 Das gütige, verständnisvolle Lächeln, das sein Vater ihm bei diesen Worten schenkte, trieb Lipwig schier in den Wahnsinn. Warum waren Engel nur immer so schrecklich überzeugt von der Richtigkeit ihrer Handlungen?

 Seine Eltern hatten Recht gehabt. Der Schutzengel dieses wunderbar ruhigen Ortes zu werden, hatte tatsächlich eine reinigende Wirkung auf ihn gehabt. Es hatte ihn von der vagen Hoffnung gereinigt, vielleicht doch irgendwann als Schutzengel glücklich zu werden. Und gelernt hatte er auch viel. Die Menschen, die über die Jahre zu seinem kleinen Schrein gekommen waren, hatten ihm oftmals ihre innersten Gedanken und Wünsche offenbart. Andere hatten ihm, beziehungsweise einer brennenden Kerze, fette Lügen aufgetischt. Lipwig hatte sich einen Spaß daraus gemacht, die einen von den anderen zu unterscheiden. Er hatte sonst nichts zu tun gehabt. Und es war eine erstaunlich große Herausforderung gewesen. Das Problem war nur die Vergangenheitsform. Er hatte diese Fähigkeit gemeistert, genauso wie das Lesen der Gefühle eines Menschen, bevor dieser anfing zu sprechen, und das Erkennen seiner Motive aus den kleinsten Anzeichen. Letzteres war kein Problem mehr gewesen, nachdem er die Bedeutung der Hoffnung im Leben der Menschen erkannt hatte. In den letzten zehn Jahren hatte er sich darauf verlegt, den Menschen tatsächlich zu erscheinen und sie so lange wie möglich am Sprechen zu halten. Sein Rekord lag bei einem vollen Tag und drei Stunden. Anschließend hatte er die kleine Quelle des Schreins mit einem Stärkungszauber belegen müssen, damit der arme Kerl den Heimweg schaffte.
 Doch auch diese Beschäftigung hatte inzwischen ihren Reiz verloren. Lipwig atmete tief durch. Die Quelle sprudelte vor Lebensenergie. Er hatte es wahrscheinlich ein wenig übertrieben. Sie würde das noch über Jahrhunderte durchhalten und den frommen Menschen des Dorfes ein ungewöhnlich langes Leben bescheren. Aber er wollte sich schließlich nicht umbringen. Im Gegenteil. Heute sollte der erste Tag seines Lebens werden. Mit 114 Jahren würde er endlich geboren werden. Bedächtig und vorsichtig, sprach Lipwig den letzten Zauber. Im nächsten Moment schrie er vor Schmerz auf. Benommen torkelte er dorthin, wo er die Quelle vermutete. Seine Füße fanden nasse Felsen, seine Knie gaben nach, und Lipwig hatte noch genug Geistesgegenwart, sich auf den Rücken zu drehen, bevor er das Bewusstsein verlor.

 Kühle Nachtluft umfing ihn, als er erwachte. Seine Schultern wurden von eisigem Wasser umspült. Ihm war nicht kalt. Das war kein gutes Zeichen. Hatte es nicht funktioniert? Lipwig setzte sich auf und blinzelte in die Dunkelheit. Es hatte funktioniert. Seine tagklare Nachtsicht war diffusen Andeutungen von Umrissen und Formen gewichen. Menschenaugen gewöhnten sich mit der Zeit an das Dunkel. Würden seine das auch tun? Doch auch nach zehn Minuten waren die Umrisse nicht schärfer geworden. Nun, dann würde er eben blind klarkommen müssen. Vorsichtig tastete sich Lipwig vorwärts auf zwei aufragende Schatten zu. Zaghaft tastete er danach und befühlte die Federn, auf die seine Hand stieß. Sie fühlten sich merkwürdig an, als würde etwas an ihnen fehlen. Mangels optischer Orientierungshilfen rief sich Lipwig ein mentales Bild seiner Umgebung vor die Augen. Das Loch müsste vier Schritte von ihm entfernt liegen. Entschlossen packte Lipwig mit jeder Hand einen der beiden fedrigen Schatten und zerrte sie in die Fallgrube. Als er den zufriedenstellenden dumpfen Aufprall hörte, stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Er war frei. Jetzt fühlte er es ganz deutlich. Mit dem ersten Licht des Tages würde er sechs Fuß Erde über seine Flügel schaufeln und in sein Leben hinaustreten.

 Die Trennung von seinen Flügeln hatte ihn nicht sterblich gemacht. Zu dieser Gewissheit gelangte Lipwig, als er auch am dritten Tag seiner Wanderung keinen Durst oder gar Hunger verspürte. Auch die Verbindung zu seiner Magie spürte er noch, wenn auch schwächer. Er würde sie nicht verwenden. Wo blieb denn sonst die Herausforderung? Auch seine Sinne funktionierten alle noch verlässlich. Allein die Nachtsicht, die er als Teil seiner Pflicht erhalten hatte, war Vergangenheit. Genauso wie die Bindung an den Schrein. Alles in allem ein kleines Opfer für grenzenlose Freiheit.

 „Weißt du, Bürschchen? Du hast ein Talent“, meinte Kribbin.
 „Habe ich das?“, fragte Lipwig unschuldig. Der Dieb Kribbin schnaubte verächtlich.
 „Du bist der erste, der mich mit den Fingern in seiner Tasche erwischt hat“, erklärte er, „Schau her, ich mach’s wieder gut. Ich bring dir bei, wie du jeden beliebigen Goldbeutel dein Eigen nennen kannst. Deiner ist ja nicht sehr voll.“
 „In Ordnung“, meinte Lipwig achselzuckend. Es war ja nicht so, als wäre er auf Gold angewiesen, und nachtragend war er auch nicht. Außerdem hatte er auch nach einem Jahr Freiheit noch nichts gefunden, was ihn lange in seinen Bann gezogen hätte. So ergriff er jede Gelegenheit, die sich ihm bot. Und Taschendiebstahl war neu…
 …und schrecklich langweilig. Der anfängliche Adrenalinschub war schnell Routine gewichen. Lipwig wusste, dass er nicht erwischt werden würde, und das nahm der ganzen Angelegenheit den Spaß. Außerdem brauchte er das Gold nicht und die Menschen, die er bestahl, hatten nicht den Hauch einer Chance. Das war nicht sportlich.
Kribbin schüttelte traurig den Kopf.
 „So viel vergeudetes Talent“, sagte er wehmütig, als Lipwig davonzog. In Lipwig hingegen keimte ein neuer Gedanke. Einen arglosen Menschen um sein Hab und Gut zu bringen, empfand er als falsch. Doch einen habgierigen Menschen dazu zu bringen, ihm freiwillig Gold zu geben, war etwas anderes. Zudem bot dieser Ansatz viel mehr Möglichkeiten, erwischt zu werden. Das war aufregend. Zumindest im Moment.

 Mit einem breiten Grinsen betrachtete Lipwig den Schnurbart aus Pferdehaar, der ihm auf der Oberlippe seines Spiegelbilds entgegenlächelte. Er war zwar von Hause aus mit einem absolut unauffälligen Gesicht gesegnet, aber wenn er auf seinem Weg eine Welle von plötzlichen Amnesiefällen zurückließ, würde irgendwann schon irgendjemand stutzig werden. Er musste den Menschen etwas geben, woran sie sich erinnern konnten.
 „Hallo, Albert Spangler“, begrüßte er seine neue Identität, einen ärmlichen jungen Mann in einem abgewetzten Anzug. Wer würde diesem ehrlichen, vom Schicksal geplagten Mann nicht sein Vertrauen schenken? Außerdem war Albert Spangler ein ausgezeichneter Kandidat für den Ring-Trick. An dem hatte er seit seiner Ankunft in Al’Katz immer wieder gefeilt und nun würde er ihn perfektionieren.
 Zwei Stunden später wartete er mit angespannten Nerven, aber gelassener Körperhaltung vor einem Juwelier darauf, dass der hilfsbereite Herr, der dem armen verzweifelten Erben aushelfen wollte, indem er ihm seinen Diamantring abkaufte, wieder aus dem Geschäft kam. Mit leicht leidender aber hoffnungsvoller Miene sah er ihm entgegen, als dieser auf die Straße trat.
 „Ihr hattet Recht, junger Herr“, begann dieser nun ausgesprochen höflich, „Dieser Ring ist tatsächlich euren Preis wert.“
 Albert Spanglers Gesicht erstrahlte vor Erleichterung, bevor es wieder traurig in sich zusammenfiel.
 „Aber der Ring ist doch das letzte, was mir von ihr geblieben ist“, sinnierte er und nahm vom freundlichen Herrn behutsam den Ring entgegen.
 „Wisst ihr was? Ich lege noch ein Goldstück drauf, weil ihr mir so leid tut“, bot der Herr großzügig an. Der Ring, den Lipwig in der Hand hielt, war in etwa das Vierfache dessen wert. Im Gegensatz zu dem Ring, den er kurz darauf dagegen austauschte, als der ehrliche Herr ihm auf sein zögerliches Nicken hin einen Beutel voller Goldmünzen reichte. Der Wechsel ging so schnell vonstatten, dass der Moment ausreichte, in dem Lipwigs Hand auf ihrem Weg zur Übergabe vom Goldbeutel verdeckt wurde. Mit einem gönnerhaften Lächelt wandte sich der nette Herr ab, bevor dieser arme Tropf, Albert Spangler, es sich anders überlegen konnte oder den Triumpf in seinem Blick entdeckte. Lipwig gestattete sich ebenfalls ein Lächeln, als er den echten Diamantring zurück in das Futter seines Anzugs steckte. Es wurde Zeit, sich etwas Neues auszudenken.

 Noch berauscht vom Nervenkitzel seines letzten Clous entfernte Mundo Schmitt, der Hausverkäufer,  seine Haarbüschel aus den Ohren und wurde wieder zu Lipwig, dem Trickbetrüger und Gauner. Doch viel Zeit verschwendete er in dieser Gestalt nicht. Mit ein paar einfachen Handgriffen sah ihm aus dem Spiegel seines kleinen Hafenkneipenzimmers Edwin Striep entgegen. Edwin würde heute seine Premiere auf dem Jahrmarkt haben, der gerade in Er’gast weilte. Mit seinem Kartenspiel in der Manteltasche und einem Funkeln im Auge, stieg Lipwig aus dem Fenster.
 Sein kleiner Tisch stand etwas abseits vom Hauptgetümmel. Das war billiger gewesen und sein Standort würde sich ohnehin schnell genug rumsprechen. Das war zumindest der Plan. Als die ersten Besucher sich in die Nähe seines Standes verirrten, rief er fröhlich zu ihnen herüber: „Hey, hey, was seh‘ ich denn da? Ein Junger Herr und sein Fräulein. Liebenswert. Absolut liebenswert. Junges Glück ist was Schönes.“
 Das Paar reagierte mit einem höflichen, unsicheren Lächeln.
 „Nicht so schüchtern, nicht so schüchtern! Kein Grund sich zu verstecken! Was haltet ihr davon? Ein Spiel umsonst, für das junge Paar.“
 Er sah den unsicheren Blick, den die Frau ihrem Begleiter zuwarf.
 „Muss auch nicht sein, war nur ein Vorschlag. Die jungen Herrschaften haben bestimmt Besseres zu tun“, zwinkerte er ihnen zu.
 „Na gut, in Ordnung“, meinte der Mann, „Schadet ja keinem.“
 „Wunderbar, wunderbar!“, rief Lipwig und wurde plötzlich unsicher, „Also, äh, ja. Regeln. Wisst ihr zwei, wie man Findet-die-Königin spielt?“
 Die Frau nickte. Lipwig konnte sein Glück kaum fassen.
 Eine Viertelstunde später bog das junge Paar ein wenig verschämt mit vollen Börsen um die Ecke. Es tat ihnen tatsächlich leid, dass sie aufgrund der Ungeschicklichkeit des Kartenspielers gewonnen hatten. Es war immer wieder erfrischend, auf wahrhaft ehrliche Leute zu treffen. Sie waren so selten. Allerdings gefährdeten sie auch Lipwigs Plan, wenn sie aus lauter Höflichkeit ihr Spielglück verschwiegen. Sie sollten ihren Freunden sein Ungeschick verraten. Sie sollten Fremden von ihm erzählen. Daher hatte er ihnen noch hinterhergerufen: „Alles halb so wild. Wer ehrlich spielt, wird ehrlich gewinnen. Empfehlt mich ruhig weiter!“
 Eine weitere halbe Stunde später war er im Geschäft. Die Unterwelt des Jahrmarkts stand bei ihm Schlange, um dem armen Stümper in ihrem Revier einmal zu zeigen, wie man ein Kartenspiel zinkt. Und sich nebenbei auch noch eine goldene Nase zu verdienen.
 Als der arme Edwin am Abend seine Zelte abbrach, war der Inhalt seiner ursprünglichen drei prall gefüllten Münzbeutel auf einen Beutel zusammengeschrumpft. Mit hängendem Kopf schlich er davon und verlor sich im Gassengewirr des Hafenviertels. Als er ohne Münzbeutel durch ein Fenster einer Hafenkneipe stieg, grinste er von einem Ohr zum anderen. Seine heutigen Gegenspieler hatten alle das Zeug dazu gehab, ihn zu durchschauen. Doch ihre eigene Gier hatte ihnen dabei die Sicht versperrt. Unehrliche Menschen waren wunderbar! Lipwig war voller Energie, die in Taten umgesetzt werden wollte. Methodisch und flink packte er sein Hab und Gut zusammen, verwandelte sich in Mundo Schmitt und prellte den Halsabschneider von einem Wirt um seine Zeche. Wenn die Kleinganoven der Stadt herausfanden, dass ihre Gewinne nur aus Blech und Steinen bestanden, wäre er längst über alle Berge.

 Im Laufe der nächsten zwei Jahre erblickten vier weitere Alter Egos das Licht der Welt. Jeff der Viehtreiber und Ethel Schlange erfüllten ihre Zwecke zuverlässig, aber nicht sonderlich aufsehenerregend. Und der leicht verwirrte Herr Hausfried Stallschlosser war geradezu ein Desaster. Nachdem Lipwig das zweite Mal aus einem Siechenhaus hatte ausbrechen müssen, legte er diese Verkleidung ein letztes Mal ab und setzte sie in Brand. Anschließend musste er auch noch vor wütenden Kleinstädtern Reißaus nehmen, da deren strohgedeckte Gemeindehalle in Flammen stand. Besser, dieses Kapitel einfach zu vergessen.
 Auf Herrn Robinson war er auf der anderen Seite besonders stolz. Oder vielmehr auf dessen kleine Wunderbox. Ein Beispiel an ausgefeilter Ingenieurskunst mit ihren ineinandergreifenden, verschiebbaren Fächern und Schubladen. Robinsons Box war an sich schon ein Meisterwerk und sie enthielt alle Zutaten für weitere Wunder. Bankdokumente, Besitzurkunden und Geburtsscheine wurden aus dieser Box gezaubert. Und Herr Robinson war ihr Wächter. Vielmehr war er derjenige, der sie bei einem ausgesprochen ehrlichen Händler in Al’Katz deponiert hatte. Dieser Händler war der einzige Mensch, der von Lipwig stets mit barer Münze bezahlt wurde. Seinen größten Schatz aufs Spiel zu setzen, kam selbst dem Trickbetrüger nicht in den Sinn.
 Hatte Herr Robinson seinen Dienst getan und war seine Box wieder sicher verwahrt, so übernahm Albert Spangler den Dienst. Allerdings hatte der sich für den Moment einen teureren Anzug zugelegt und niemand würde auf die Idee kommen, ihn für einen armen Erben zu halten. Höchstens einen reichen Erben. Den die Bank bei einer Transaktion um zwei Nullen geprellt hatte. Der nun stinksauer war. Und vor dem schwitzenden Bankbeamten rot anlief.
 „Ich bin wirklich untröstlich, mein Herr“, buckelte dieser, „Aber ich muss um ein wenig Geduld bitten, während ich Euer Anliegen prüfe.“
 Albert Spangler rang sichtlich mit der Fassung, atmete einmal tief durch und sagte dann ruhig: „Selbstverständlich. Ihr tut ja auch nur Eure Arbeit. Ordnung muss sein.“
 Sichtlich erleichtert und mit Dankbarkeit im Blick begann der Beamte seine Prüfung. Lipwig liebte diesen Moment. Die Spannung des Wartens. Er wusste, dass seine Fälschungen perfekt waren. Sie waren mehr als perfekt. Sie waren in ihren Details so unvollkommen, wie sie nur sein konnten. Doch sie enthielten gerade genug Andeutungen, dass das menschliche Gehirn Fehlendes einfach ergänzte. Beziehungsweise, im Falle des Bankbeamten, das Elfenhirn. Lipwig hatte die Erfahrung gemacht, dass weniger mehr war und zu viel Liebe zum Detail eher hinderlich. Außerdem hatten die Dokumente das richtige Gewicht. Und das nicht nur im übertragenen Sinn. Das Papier stammte aus den eigenen Vorräten der Bank. Es war hell und weich und glatt mit nur einer Spur von Samt. Perfekt. Und dennoch. Würden seine Fälschungen die Prüfung bestehen? Lipwig war vollkommen wach. Er nahm jede Regung im Gesicht des Beamten wahr. Dies war der große Moment, in dem sich alles entscheiden würde. Dies war der Moment, für den Lipwig lebte. Der Beamte griff nach seinem Stempel und knallte ihn mit einem finalen Schlag auf das Papier. Die Auszahlung war genehmigt.

 Die Augen des Pfandleihers fanden die beinahe unleserlich gewordenen Reste des Zertifikats auf der Innenseite des Klangkörpers. Hinter seiner Aufmachung als Fred hätte Lipwig ihm am liebsten anerkennend zugenickt. Der Zwerg war ein Meister seiner Profession. Nicht der Hauch einer Regung huschte über das gelangweilte Gesicht des Mannes. Doch Lipwig erkannte die Bewegungsmuster, mit denen sein Gegenüber die Leier immer wieder in eine Position brachte, in der er das Zertifikat betrachten konnte. Das Stück Pergament selbst war Herrn Robinsons letztes Meisterwerk. Es war erstaunlich, was man mit einer Rasierklinge, ein paar Pilzen, etwas Wasser und viel Geduld erreichen konnte. Das Ergebnis war ein fragiles, glattes und verblichenes Stück Schreibkunst, das sich an den Rändern langsam auflöste.
 „Viel wert ist die nicht, Bürschchen“, sagte der Pfandleiher schließlich mit einem letzten verächtlichen Blick auf das Instrument, das die Krönung seines Ladens werden sollte, „Sie muss neu besaitet werden und das Holz ist rau und nicht gut gepflegt. Ich kann dir vier Kupfertaler dafür geben.“
 Lipwig fand den Preis ironisch. Es war derselbe, den er selbst für die abgewetzte alte Leier bezahlt hatte. Hätte, korrigierte er sich. Der Händler hatte keine Ahnung von Instrumenten gehabt. Die Leier hatte dessen Sohn gehört, der sich eine neue Freizeitbeschäftigung gesucht hatte. Lipwig hatte ebenso wenig Ahnung, was ihn aber nicht davon abgehalten hatte, mit kritischen Bemerkungen und Fachbegriffen um sich zu schmeißen, die er sich kurz zuvor bei einem Musikertreffen in einer Kneipe angeeignet hatte. Zuletzt hatte ein mickriger Kupferpenny den Besitzer gewechselt.
 „Vier Kupfertaler“, wandte er sich nun an den Pfandleiher, „Das ist sehr großzügig von Euch, aber ich schulde meinem Vermieter-“
 Fred, der arme Musiker, stockte sichtlich peinlich berührt. Dann fuhr er kleinlaut fort: „Nun, mehr als das.“
 „Tut mir Leid, Kleiner“, erwiderte der Zwerg mit echtem Bedauern in der Stimme, „Vielleicht hast du ja woanders mehr Glück.“
 Lipwig verbeugte sich innerlich vor dem Pfandleiher. Dessen Tonfall war perfekt. Er vermittelte zunächst tiefes Mitgefühl und im zweiten Teil gerade genug unterschwellige Hoffnungslosigkeit, dass dem armen Fred klar war, dass er nirgends einen besseren Preis bekommen würde. Freds Gesichtszüge entgleisten wie auf Befehl. Und wenn Lipwig den Zwerg richtig gelesen hatte, würde er nun mit einer kleinen Preiserhöhung die Falle zuschnappen lassen.
 „Na gut, fünf Kupfertaler“
 Da war es. Fred zögerte. Er wusste, dass das nie genug sein würde, um die Miete zu bezahlen. Doch er wollte auch nicht riskieren, dass der nette Pfandleiher ihn rausschmiss.
 „Ich“, begann Lipwig in einem nicht minder perfekten Tonfall, „Ich will nicht undankbar erscheinen. Nun, aber die Sache ist die, dass ich, ähm, ich meine… Ich bin einen ganzen Goldtaler im Rückstand.“
 Den letzten Teil presste er kleinlaut und schnell hervor, als hätte er Angst vor diesen Worten. Ein Goldtaler war immer noch kein Wert, im Vergleich zu dem, was die Leier dem Pfandleiher bei einem Sammler einbringen würde, minderte seine Gewinnspanne jedoch schon beträchtlich. Lipwig sah ihn förmlich kalkulieren. Auch wenn der Zwerg längst in seiner Falle zappelte, genoss er diesen Tanz mit einem anderen Profi. Es machte Spaß, seine eigene Arbeitsweise einmal von außen zu sehen. Sein Gegenüber hatte zwar nicht Lipwigs Bandbreite, doch in dem, was er tat, war er gut. Mit einem Seufzer schüttelte dieser nun den Kopf.
 „Beim besten Willen nicht. Ich würde ja gerne, aber das ist sie nicht wert. Ich würde mich ruinieren. Du bist wirklich ein netter Kerl und ich wünsche dir alles Gute. Und vor allem, dass dich der Schuldeneintreiber“, hier wurde der Zwerg langsamer, „glimpflich behandelt…“
 Lipwig strahlte begeistert. Natürlich nicht mit seinem Gesicht. Das trug die Niedergeschlagenheit und wachsende Angst, die den Worten des Pfandleihers angemessen waren. Er strahlte, weil er seinem Gegenüber am liebsten die Hand geschüttelt hätte. Der Zwerg wusste, dass er gewonnen hatte. Er wusste, dass Fred den Goldtaler mit größter Dankbarkeit annehmen würde, wenn er ihm diesen jetzt sofort in die Hand gedrückt hätte. Doch er nahm sich Zeit. Die Zeit, um es richtig zu machen. Die Zeit, die nötig war, um sicher ausschließen zu können, dass Fred nicht irgendwann der Gedanke kommen könnte, übers Ohr gehauen worden zu sein. Der Wechsel von der Ablehnung des Preises zu dessen Annahme musste organisch sein, stimmig.
 Nach einer nachdenklichen Pause sah der Zwerg Lipwig direkt in die Augen, setzte zum Sprechen an und schüttelte dann nur traurig den Kopf. In Gedanken ganz klar bei den schrecklichen Dingen, die Steuereintreiber schmächtigen Kerlchen wie Fred antaten. Lipwig reagierte prompt. Mit einem niedergeschlagenen Nicken wandte sich Fred zum Gehen. Libwig wartete mit gespitzten Ohren auf den Seufzer hinter sich. Er wurde nicht enttäuscht.
 „Ach, was soll’s. Gib schon her“, meinte der gutherzige Pfandleiher laut, „Ich geb‘ dir den Goldtaler für die alte Leier.“
 Mit einem Gesicht voller Hoffnung drehte sich Fred wieder um.
 „Wirklich?“, hauchte er. Nun war es an Lipwig, die Dinge nicht zu überstürzen.
 „Ja, wirklich. Aber sag es bloß keinem weiter.“
 Unsicher sah Fred noch einmal zu seinem geliebten Instrument in seinen Händen hinab, fasste sich ein Herz und reichte es dem Zwerg hinter dem Tresen. Nur widerstrebend ließ er los.
 „Ich, ich komme wieder. Ich verdiene das Gold. Irgendwie. Bitte verkaufen Sie sie nicht sofort“, flehte er.
 Mit einem gequälten Lächeln rang sich der Pfandleiher auch zu diesem Eingeständnis durch.
 „Also gut. Ich gebe dir drei Wochen statt einer“, sagte er in dem sicheren Wissen, dass Fred selbst in drei Monaten niemals einen Goldtaler und drei Silberlinge zusammenkriegen würde, und stellte dem armen Musiker die Quittung aus. Mit zittrigen Händen nahm Lipwig das Stück Papier und den Goldtaler entgegen und verließ mit einem letzten wehmütigen Blick über die Schulter das Pfandleihhaus.
 In Anbetracht seiner sonstigen Erträge, war das ein geradezu mickeriger Lohn für seine Mühen. Da er sie zu sonst nichts gebrauchen konnte, verwendete er seine Schätze als Maß seines Erfolgs und dieser Taler spiegelte nicht im Geringsten den Aufwand wieder, den er betrieben hatte, um an ihn heranzukommen. Schulterzuckend setzte er einen mentalen Strich unter Fred, den Musiker. Es hatte Spaß gemacht, solange es angedauert hatte. Doch ein zweites Mal wäre nur eine Wiederholung derselben Tanzschritte. Was Lipwig jetzt brauchte, war etwas Neues. Etwas Großes. Es war Zeit, Al’Katz zu verlassen, um mit frischen Ideen wiederzukommen.

 Es war eine Schnapsidee gewesen. So viel stand fest. Lipwig schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Was jetzt zählte, war der bröselige Mörtel um den großen Mauerstein, der ihn von den Stallungen trennte. Ein Großteil davon befand sich bereits zwischen den Strohhalmen seiner Matratze. Das Ergebnis von drei Wochen ununterbrochener Arbeit. Es war erstaunlich, welche Motivation man für diese stupide Tätigkeit aufbringen konnte, wenn sie die einzige Hoffnung war, dem Tod zu entgehen. Behutsam trug der Todgeweihte eine weitere Portion Mörtelmasse an das andere Ende des Raumes. Dort klopfte er den Saum des ehemals eleganten Mantels seines letzten Alias über der Matratze aus und bezog diese wieder mit dem dreckigen Laken. Der Mantel sah inzwischen kaum besser aus. Er hätte in seinem jetzigen Zustand wohl nur noch einem Stallknecht zur Arbeitskleidung gedient.
 Der Doktor hingegen war ein Kunstwerk gewesen. Er hatte sich mühelos in den gehobenen Schichten der Gesellschaft bewegt. Keine Tür war ihm verschlossen geblieben. Bis auf eine. Und natürlich hatte er sich genau hinter dieser Tür im Charakter eines Menschen verschätzt. Lipwig schüttelte abermals den Kopf und nahm wieder den Löffel zur Hand, der inzwischen eher einem Zahnstocher glich. Wie konnte ein einzelner Mann aber auch nur so fantasie- und humorlos sein? Lipwig hätte das vor drei Jahren noch nicht für möglich gehalten. Und genau das war ihm zum Verhängnis geworden. War er wirklich erst drei Jahre hier? Es kam ihm bedeutend länger vor. Die Drogentrips, denen er ausgesetzt worden war, konnte er auf jeden Fall nicht mehr zählen und auch seine – offensichtlich gescheiterten – Fluchtversuche nicht mehr.
 Doch derjenige, der davon in den Wahnsinn getrieben worden war, war nicht etwa Lipwig gewesen, sondern sein zuständiger Wächter. Zwar entfalteten die raffinierten Gifte der Flora und Fauna Perms auch bei Lipwig eine schwache halluzinogene Wirkung, doch die erhoffte Amnesie, die seinen Charakter neu formbar machen sollte, war all die Jahre ausgeblieben. Vor genau dreiundzwanzig Tagen waren Perms Wächtern die Ideen ausgegangen. Einen Tag später war Lipwig in den hintersten Winkel von Al’Katz verlegt worden und sollte dort auf seine Hinrichtung warten. Lipwig hingegen dachte gar nicht daran, morgen zu sterben. Oder vielmehr dachte er sehr konzentriert daran und arbeitete an einem Ausweg. Mit einem letzten Knirschen gab der restliche Mörtel auf und rieselte zu Boden.
 Wäre Lipwig nicht Lipwig gewesen, so hätte er nun unverzüglich den Stein aus der Wand geschoben, sich durch das Loch gezwängt und sich davongemacht. Doch auch nach drei Jahren Gefangenschaft in Perms berüchtigtstem Gefängnis hatte er sich seinen Charakter bewahrt. Und daher nahm er sich die Zeit, auch das letzte bisschen Mörtel in seiner Matratze zu verstecken. Anschließend schob er vorsichtig und leise den Stein aus der Mauer und zwängte sich durch das Loch. Auf der anderen Seite empfing ihn der Geruch von hunderten von reinrassigen Pferden. Lipwig ergriff auch hier nicht kopflos die Flucht. Mit Mühe hievte er den Felsblock zurück in das Loch und stemmte sich mit dem Rücken dagegen, bis die Wand wieder einen intakten Eindruck machte. Ein verschmitztes Lächeln umspielte die Lippen des Ausbrechers. Sich einfach in Luft aufzulösen war eine wunderbar spaßige Art und Weise, aus einem Gefängnis zu entkommen.
 „Stallbursche! Mein Pferd!“
 Lipwig fuhr herum. Ein prunkvoll gekleideter Herr mit einem Bonsai unter dem Arm schritt mit gerümpfter Nase den Gang zwischen den Boxen entlang auf ihn zu. Ein seltsames Gefühl überkam den flüchtigen Verbrecher. Zuerst wusste er es nicht einzuordnen und reagierte daher ein wenig zu spät auf den Befehl des noblen Herrn.
 „Schwing die Hufe, Mann! Ich hab nicht ewig Zeit“, fuhr dieser den vermeintlichen Stallknecht an. Der Herr schien sich köstlich über seinen eigenen Wortwitz zu amüsieren. Jeff, der Viehtreiber, verneigte sich unterwürfig in Richtung des Witzbolds. Nach so langer Zeit in der eigenen Haut, war es für Lipwig ungewohnt, aber auch irgendwie beruhigend, wieder in die Rolle eines anderen zu schlüpfen. Sein Körper schien sich an längst vergessene Bewegungsmuster von ganz alleine zu erinnern. Lipwig lächelte – selbstverständlich unterwürfig – und vertraute seinen einsetzenden Instinkten. Er begann damit, aus den Bewegungen des herrischen Mannes dessen Ziel herauszulesen, und steuerte nun ebenfalls auf diese Pferdebox zu. Sattel und Zaumzeug hingen davor bereit. Lipwig hatte noch nie ein Pferd gesattelt. Nun, es gab für alles ein erstes Mal. Bis der Reiter des Tieres bei ihm ankam, blieben ihm noch einige Sekunden. Mit einem prüfenden Blick im Gesicht examinierte er das Lederzeug. Es gab eigentlich nur eine mögliche Kombination von Riemen und Schnallen. Mit einem zuversichtlichen Ruck nahm er den Sattel auf den linken Arm und öffnete mit der Rechten die Boxentür.
 Als der Reiter bei ihm ankam, griff Lipwig gerade nach dem Zaumzeug. Jeff führte seine Bewegung wie selbstverständlich zu Ende. Aufzäumen konnte er ein Pferd im Schlaf. Lipwig hingegen erstarrte innerlich. Er stand keinen Meter von seinem Wächter in Al’Katz entfernt. Doch der Reiter sah ihm direkt ins Gesicht und zeigte keinerlei Zeichen der Wiedererkennung. Mit einer letzten Verbeugung übergab Jeff die Zügel an den Herrn, der ihn während der letzten drei Jahre täglich malträtiert hatte. Dieser schwang sich in den Sattel und lenkte sein Pferd zum Ausgang. Lipwig wollte gerade in einem Nebengang verschwinden, als sich der Wächter ruckartig umwandte. Nackte Erkenntnis im Gesicht. Lipwig hatte keine Zeit, zu reagieren. Seile fesselten seinen Oberkörper und ein Knebel schob sich ihm in den Mund. Der Alarm, den der Wächter nun auslöste, war absolut unhörbar.

 „Der unverbesserliche Störenfried mit Namen Doktor John Smith wird mit dem heutigen Tage aus der friedlichen Gesellschaft Perms entfernt“, die monotone Litanei brach ab, als der Sprecher sich kurz zu seinem Kollegen umwandte. Lipwig konnte von seiner Position unter dem Dachbalken kurz vor dem Ausgang der Stallungen aus die Wörter ‚unregulär‘ und ‚sichtbar‘ vernehmen.
 „Das ist mir egal“, erwiderte Lipwigs Wächter bissig, „Das hier ist persönlich.“
 Mit einem resignierten Nicken wandte sich der erste Sprecher wieder an die Allgemeinheit: „In Übereinstimmung mit dem Urteil der Wächter wird der Prozess um Punkt zwölf Uhr vollzogen. Hat der Unerwünschte letzte Worte für die Aufzeichnungen der Wächter von sich zu geben?“
 Hatte er das? Lipwig war sich sicher, dass seine aktuellen Gedanken nicht wirklich geeignet waren. Diese verliefen so ungefähr in den Bahnen von ‚Verdammt, verdammt, verdammt, verdammt, verdammt‘ Er hatte aber auch ein verdammtes Pech gehabt. Warum hatte er ausgerechnet dem einzigen Wesen ganz Erradias in die Arme laufen müssen, das drei Jahre Zeit gehabt hatte, sich sein Gesicht einzuprägen? Stattdessen rang er sich dazu durch, zu erwidern: „Ich übergebe meine Seele dem Gott, der sie finden kann.“
 Der Vorsitzende Wächter kritzelte eine Zeile in einen ledergebundenen Folianten, warf seinem Kollegen noch einen finsteren Seitenblick zu und fuhr fort: „Das unerwünschte Element wird durch den Strick am Pferd aus dem Leben entfernt werden. Schließt die Vorbereitungen ab.“
 Lipwig wurde eine Schlinge um den Hals gelegt, die das Ende eines dicken Seils bildete, das wiederum über den Dachbalken über ihm verlief und dessen anderes Ende gerade an dem Geschirr eines pechschwarzen Hengstes befestigt wurde. Das Tier strotzte nur so vor Kraft und wurde von fünf Stallhänden gehalten. Wenigstens wird es schnell gehen, schoss es Lipwig durch den Kopf. Wenn dieses Muskelpaket losstürmte, würde er einfach an der Stalldecke zerschellen.
 „Boris ist bereit!“, meldete ein Helfer.
 „So vollstreckt das Urteil“, hob der vorsitzende Wächter an und hob die Hand, pausierte und: „Jetzt.“
 Das Fallen der Hand war das letzte, was Lipwig sah.



Fortsetzung folgt... an einem anderen Ort





Weiteres


Avatar: Feucht von Lipwig aus den Scheibenweltromanen (Quelle des Anzugs: http://getdrawings.com/anime-clothes-drawing)
Mehrfach-Accounts: -
Wahres Alter: ü18
Wie habt ihr hierher gefunden: genX
Erreichbarkeit bei Inaktivität: Discord
Patenschaft: Nein
Nach oben Nach unten
 
[Unbeteiligte] Lipwig (D-Rang)
Nach oben 
Seite 1 von 1
 Ähnliche Themen
-
» [Bund der Freien] Asrael/Korin Himmelsjäger (B-Rang)

Befugnisse in diesem ForumSie können in diesem Forum nicht antworten
Era of Dawn - Fantasy RPG-Forum ::  :: Charakter-Bewerbung-
Gehe zu: